Bron: WOM, p.58-62, 1996-11
Auteur: M. Fuchs-Gamböck
Renaissance für den Krautrock?
Ein Wunderliches und lange Zeit weitgehend verdrängtes Kapitel der Rockgeschichte gerät unvermittelt wieder ins Blickfeld – vor allem im Ausland und nicht nur als Sample-Jagdgrund für Techno- und Trance-Musiker ist das Phänomen ‚Kraut-Rock’ wieder im Gespräch
In Chris Karrers gemütlicher Zwei-Zimmer-Wohnung im Münchner Stadtteil Schwabing scheint die Zeit stehengeblieben zu sein: Es ist elf Uhr vormittags und doch hat das Tageslicht zu dieser Oase des indischen Tands, der plüschigen Sofas und der rauchverhangenen Luft keine Zutrittsberechtigung. So stellt der Jungspund von heute sich den Prototyp der Hippie-Höhle in den späten 60ern vor; und genau diese verwegene Ära ist auch das Zeitalter, über das Karrer am liebsten spricht.
Denn der schmale Graubart mit den Jesuslatschen, den orientalischen Leinen-Klamotten und dem kecken Filou-Bärtchen ist eines der letzten, überzeugenden Hippie-Exemplare in diesem Land – und darüber hinaus ein Original der vielbeschworenen ‘wilden’ Zeiten um das sagenumwobene Jahr 1968, das mittendrin im Geschehen steckte. Viel wichtiger aber noch: das trotz allem überlebt hat.
Gleichzeitig ist der 48jährige Wahl-Münchner mit Heimatstadt Kempten eine lebende Deutsch-Rock Legende: Gründungsmitglied derjenigen Band, die bis heute als Inbegriff für das kuriose Phänomen ‘Kraut-Rock’ gilt: der Gruppe Amon Düül. Diese so wüste wie genialische Formation gründete sich einst als “Münchner Kommune mit elf Erwachsenen und zwei Kindern, die alles gemeinsam machen will, unter anderem Musik”, und war vor über 25 Jahren die erste deutsche Band, die die Kraut-Rock-Welle auch über die heimischen Grenzen hinaus zum Begriff machte. Damals schmückten die Schwabinger sogar die Titelseiten von englischen Musikgazetten wie dem Melody Maker. Vor den Düüls hatte auf der Insel niemand ernsthaft Notiz vom Geschehen in der popmusikalischen Wüste Germany genommen, teutonische Rock‘n’Roller übten sich bis dato darin, brav und ungelenk den anglo-amerikanischen Idolen nachzueifern.
“Amon Düül allerdings” urteilte der Melody Maker 1970, “ist die erste deutsche Gruppe, die als eigenständiger Beitrag zur internationalen Pop-Kultur angesehen werden kann.” Ins selbe euphorische Horn stieß auch der britische Star-DJ John Peel, der zum großen Propagandisten des Kraut-Rock in seiner Heimat wurde und die ‚Teutonic Sounds’ in seiner BBC-Radio-sendung rauf- und runternudelte. Kein Wunder: Peel war stets auf der Suche nach neuen, aufregenden Klängen, und Amon Düül lieferten sie ihm. Orgiastisch-psychedelische Klänge trafen in den Frühwerken der Gruppe wie ‚Phallus Dei’ und ‚Yeti’ auf fanatischen Surrealismus, Wagnerscher Bombast stand da lyrisch-zarten Folkloreklängen gegenüber. Und alles stand ganz im Zeichen der Improvisation, die aus etlichen Düül-Stücken Epen von über 20 Minuten Länge machte. „Die Improvisation“, erinnert sich Karrer mit verschmitztem Grinsen, „war das ein und alles. Wir hatten keine Zeit, um viel zu proben, wir handelten nach dem Grundsatz: wer üben muß, der hat’s wohl nötig. Das Leben damals war viel zu aufregend, um sich ins stille Kämmerlein zu verziehen und ausschließlich auf die Musik zu konzentrieren.«
Parallel zu Amon Düül entwickelten sich auch in anderen Städten der Republik innovative Bands, die der Besatzer-Dominanz in der hiesigen Rock-'n'-Roll-Szene entkommen wollten, indem sie mit neugewonnenem Selbstbewußtsein nach eigenen Tönen suchten. Nicht nur deren Musik klang häufig merkwürdig, sondern auch ihre Bandnamen: Faust, Can, Popol Vuh, Kraftwerk, Ash Ra Temple, Tangerine Dream, Guru Guru oder Cluster, um nur die bekanntesten zu nennen. Bis weit in die 70er Jahre hinein waren die Kraut-Rocker das popmusikalische Aushängeschild einer Nation. die endlich zu ihrer gegenwartskulturellen Identität finden wollte.
Das Ende der Hippe-Seligkeit
Doch zum Ende jenes denkwürdigen, aufregenden Jahrzehnts machte Punk aus England auch vor deutschen Hörgewohnheiten nicht halt und verdrängte die Kultur-Rebellen von einst aus dem Blickfeld, um sie für lange Zeit aus dem Gedächtnis der Konsumenten zu streichen. Wer in den 80er Jahren noch über Kraut-Rock sprach. der galt als kauziger Nostalgiker, der offensichtlich versuchte, die Zeit festzuhalten. Von Glück reden konnte, wer, wie die Düsseldorfer Elektronik-tüftler Kraftwerk, inzwischen von den Medien einer anderen musikalischen Strömung zugerechnet wurde.
„Wir waren“, erinnert sich Düül-Mann Chris Karrer, „zu Beginn unserer Karriere der absolute Underground. Doch in den späten 70er Jahren gab es den nicht mehr, unsere revolutionären Ideolo-gien und Visionen von früher brachten im Alltag immer weiter weg, das reaktionäre Spießertum war erneut im Vormarsch. Erschwerend hinzu kam, daß die Düüls nie eine Single-Band oder in den Charts waren, sondern stets ein subkulturelles Ereignis, Phänomen und Ausdruck seiner Zeit, eine Art personifiziertes Gesamtkunstwerk. Wahrscheinlich hatten wir unsere Szene-Bedeutung stets völlig unterschätzt. Deshalb konnten wir später niemals davon profitieren.“
Ähnliche Erinnerungen hat auch Florian Fricke an seine musikalische Vergangenheit. Fricke ist heute 51, klassisch ausgebildeter Komponist bzw. Pianist und seit exakt 25 Jahren der Kopf des ebenfalls in München ansässigen Projekts Popol Vuh, das sich zumindest in der deutschen Öffentlichkeit besonders durch die Soundtracks zu Werner-Herzog-Filmen wie ‚Aguirre, der Zorn Gottes‘, ‚Nosferatu‘ oder ‚Fittzcarraldo‘ einen Namen gemacht hat. In England, Frankreich, Italien oder Amerika steckt man die Combo gerne in die New-Age-Ecke — in die sie nach Frickes Ansicht aber gar nicht hingehört. Für ihre nicht unbeträchtliche Anhängerschar in aller Welt paßte Popol Vuh sowieso in keinerlei Stil-Schublade. Fricke war neben dem Klassik-Rock-Veteranen Eberhard Schöner der erste deutsche Musiker, der bereits anno '69 über einen Moog-Synthesizer verfügte, auf dem er die ersten beiden Popol-Vuh-Alben ‚Affenstunde‘ und »In den Gärten Pharaos« einspielte — noch heute gelten sie als Sternstunden im Bereich experimenteller Elektronik-Musik. „Ehe die Düüls oder mein Projekt anfingen, die Musik-Szene in Deutschland zu prägen, gab es nur seichten Schlager auf der einen oder ein Sammelsurium schräger Töne auf der anderen Seite. Also: Kitsch oder die völlige Negierung von Tonalität. Wenn man ein seriöser Musiker sein wollte, galt die Faustregel: bloß keine Melodien. Dadurch gab es natürlich ein riesiges Vakuum in der Musiklandschaft. Und genau das verseichten wir zu fällen“, erinnert sich Fricke.
„Außerdem litten all die einheimischen Musiker vor 1968 unter einem kulturellen Minderwertigkeitskomplex. Aber die gewaltigen Erfolge der Beatles und der Rolling Stones mit ihrer rebellischen Attitüde hatten zur Folge, daß in ganz Deutschland eine irre Aufbruchsstimmung entstand. Wir jungen Wilden fühlten uns plötzlich als kosmopolitische Weltbürger. Und bei aller verschiedener musikalischer Prägung von Can, Amon Düül oder Popo! Vuh hatten wir doch eine Sache gemeinsam: die Andersartigkeit, gepaart mit diesem visionären world-feeling. Der Rest Europas war unsicher wegen dieser Bewegung, und um uns wie gewohnt abzuwerten, verpaßte man uns das Etikett ,Kraut-Rock‘. Wir Musiker fanden das zu Anfang blöde. Doch die Industrie stürzte sich drauf als sie merkte, daß damit Geld zu machen war. Und irgendwann traten auch wir die Flucht nach vorne an, nannten uns Kraut-Rocker und füllten diesen Begriff mit jeder Menge Leben. Doch die große Ernüchterung kam schnell. Denn während sich alle Künstler zu Beginn noch kannten und unterstützten, ließ dieses ungeheure Kollektivgefühl schon Mitte der 70er Jahre nach. Jeder von uns mußte schauen, wo er blieb. Das Hippietum war endgültig passé.“
Knapp 20 Jahre lang dümpelten die meisten Kraut-Rock-Veteranen vor sich hin: Chris Karrer schloß sich der Münchner Weltmusik-Formation Embryo an und vagabundierte ein Jahrzehnt lang durch die Welt. Florian Fricke stellte einen Großteil seines Schaffens in die Dienste des Filmemachers Werner Herzog, für den er Sound-tracks fabrizierte. Faust, Gila und viele andere Bands lösten sich gar mangels Nachfrage auf. Can und Kraftwerk zehrten vom Ruhm der vergangenen Tage. Guru Guru, Tangerine Dream oder Cluster hielten sich äußerst mühsam und mit stetig sinkenden Verkaufszahlen ihrer Tonträger über Wasser. Kraut-Rock, so schien es, war endgültig zum historisch-nostalgischen Relikt der Pop-Geschichte verkommen.
Neues Interesse in England und Amerika
Mitte der 90er Jahre sieht die Musik-Welt anders. Popol Vuh und Amon Düül haben mit ‚City Raga‘ bzw. ‚Nada Moonshine‘ neue Tonträger auf den Markt gebracht, Guru Guru und Grobschnitt arbeiten an neuen Werken, Faust haben sich reuniert und in der Londoner Queen Elizabeth Hall ein beachtliches Comeback in Form eines ausverkauften Konzerts hingelegt. Cluster tourten in diesem Sommer mit großer Publikums- und Medienresonanz durch Japan und die USA.
Schon ist wieder von Hype die Rede: „Kraut-Rock is back“, jubelte die zeitgeistige englische Fachpresse bereits.
Überhaupt, England - hier flammte das wiedererwachende und von keinem mehr ernsthaft erwartete Interesse am Kraut-Rock zuerst auf. Schallplatten der geschichtsträchtigen Label, »Ohr«, »Pilz« und »Brain« gelten im Königreich als gesuchte Sammlerstücke und werden mit Preisen bis zu 90 Pfund (etwa 200 Mark) gehandelt. Für die junge Generation von DJs und Sound-Tüftlern, die sich den Dance-Trends Jungte. Ambient oder Techno verschrieben haben. sind Can, Kraftwerk, Tangerine Dream oder Popol Vuh nichts weniger als die Pioniere ihrer Zunft und schier unerschöpfliche Sample-Quellen. Und der Ex-New-Wave-Heroe Julian Cope hat vor kurzem sein vielbeachtetes Werk ‚The History of Krautrock‘ veröffentlicht, in dem die ‚teutonic sounds‘ in den Himmel gelobt werden. Auch sein 1995er Album ‚20 Mothers‘ ist unüberhörbar an Copes große Idole Can oder Amon Düül angelehnt. „Kraut-Rock“ schwärmt Cope, „ist der Pop-Sound der Zukunft. Das war, ist und wird immer die spirituellste, experimentellste und aufregendste Musik dieses Planeten sein“.
Und Florian Fricke konstatiert leicht verwundert: „Der Trend zu dem alten Kram ist schon seit ein paar Jahren wieder da. Das liegt an der Techno-Bewegung: die echten Freaks dieser Klänge wollen nicht nur ihren Sound hören, sondern sie sind auch sehr geschichtsbewußt. Sie wollen zu den Wurzeln dieser Musik stoßen – und stoßen bei ihrer Suche zwangsläufig auf uns.“
Alte recken auf dem Weg zu neuen Ufern
Tatsächlich versuchen auch einige der Pioniere von einst, sich neues musikalisches Terrain zu erschließen. Popol Vuh etwa auf ‚City Raga‘, das eindeutig von Techno- und House-Beats geprägt ist. „Irgendwie“, grübelt Florian Fricke, „bin ich beeindruckt von Techno. Das liegt sicherlich daran, daß es diesem Sound massenwirksam gelungen ist, die Archaik zurück in die Musik zu bringen. Genau das war ja immer schon mein Grundthema, seit ich anfing, mich mit U-Musik zu beschäftigen. Aber endgültig überzeugt von Techno hat mich mein 19jähriger Sohn, der seit langem nichts anderes als HipHop und Techno hört. Immer wieder hat er mir dieses Zeug vorgespielt, voller Enthusiasmus. Und da habe ich mir dann eines Tages gedacht: Warum zum Teufel nicht mal eine Dance-Platte produzieren? Schließlich war das permanente Experiment stets das Hauptanliegen meiner Arbeit. Also machte ich mich ans Werk.“
Somit also: Techno! Tatsächlich wurden auf ‚City Raga’ die freischwebenden Collagen der Vergangenheit abgelöst durch mal treibende, mal ausgelassene und stets vom Groove dominierte Melodien. ‚City Raga‘, sagt Fricke versonnen, „ist sicher kein Bruch zu meiner bisherigen Arbeit. Aber ich wollte mich zumindest einmal in meiner Vita an einem zeitgenössischen Trend orientieren, ohne meine Wurzeln dabei zu verleugnen. Ich habe versucht, an die Seele einer häufig seelenlos gespielten Musik vorzudringen. Und ich wollte endlich mal eine Platte speziell für junge Leute machen.“
Auch Amon Düül haben mit ‚Nada Moonshine‘ versucht, ein zeitgemäßes Werk abzuliefern, das in seiner psychedelischen Ausrichtung an die Vergangenheit erinnert und in seinen munteren Beats auf die Zukunft verweist. „Ich fühle mich“, lacht Chris Karren, „in der heutigen Zeit recht wohl, auch wenn ich die Vergangenheit als Vision und verklärtes Ideal nach wie vor hochhalten möchte. Doch dieses sehr harmonische Nebeneinander von Mode, Kunst und Politik der heutigen Zeit gefällt mir sehr. Früher, da gab es doch nur die Ausgrenzung der verschiedensten Fraktionen. Diese sturen 68er, das war doch ein furchtbar verkniffener Haufen! Ich sehe mich zwar immer noch als Hippie, aber ich bin voll und ganz in den 90er Jahren zu Hause. Ich brauche diese Kontroverse, denn klar, in der Moderne gibt es diese schrecklich dumpfe Oberflächlichkeit, die einen lähmt. Aber mit den Erfahrungen von gestern ist es für mich ein leichtes, diese zu überwinden.“
Und unter diesen Umständen ist es kein Wunder, daß Can, Kraftwerk, Amon Düül oder Popol Vuh jetzt, an der Schwelle ins nächste Jahrtausend, wieder im Gespräch sind: Schließlich waren Visionen nie so gefragt wie heute. Da verzeiht man Chris Karrer selbst sein anachronistisches Zuhause und seine eigenartigen Klamotten-Individualität und eine eigene Identität sind schließlich kostbare Trümpfe im Pop-Geschäft von heute ...