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Source: AFA-Magazine, 1995
Author: Bettina Fricke-Waldthausen

Das Alphabet des Körpers

ÜBER EINE ARBEIT MIT DEM ATEM-TON

Interview mit Florian Fricke von B.F.-von Waldthausen
Wieso nennst du diese Arbeit ‘Das Alphabet des Körpers’?

Wenn man sich mit den Bausteinen der Sprache beschäftigt, stellt man fest, daß sie primäre Anschwingpunkte im Körper haben, insbesondere die Konsonanten. Weiter, da es mitschwingende sekundäre Anschwingpunkte gibt. Mit der Zeit kann man dann - auf der Grundlage eines erlebten Wissens - mit Sprache gezielt eine heilende Hand werden. Bei den Vokalen ist das etwas ungenauer, weil man sie in verschiedenen Körperräumen gleichermaßen singen kann. Die Konsonanten hingegen kann man sehr gezielt einsetzen, um die Physis in Schwingung zu versetzen. Das ist besonders wichtig in der Gruppenarbeit, wo es ja darum geht, daß die ganze Gruppe sich in dem angesprochenen Körperbereich versammelt und nicht jeder für sich arbeitet, der eine sich mit einem Vokal im oberen Bereich aufhält, ein anderer in der Mitte oder in den Fußsohlen usw., denn erst durch eine gemeinsame Ausrichtung kommt die Kraft in der Gruppe zum Tragen. Dies setzt immer wieder eine Einheitlichkeit der Gruppenwahrnehmung einer gleichen Körperebenen voraus.
So ist ein Teil der Konsonanten zur Welt gerichtet aufgrund der natürlichen Zungenstellung, sie berühren die vordere Körperwand. Dann gibt es andere, die zum Rücken gerichtet sind und diesen Bereich in Schwingung versetzen. Entsprechend der Tonhöhe, auf der gesungen wird, kann man die verschiedenen Körperebenen zum schwingen bringen. Wenn wir zum Beispiel das ‘n’ singen, zeigt die Zungenspitze, die die Führungskraft hat, dabei am Gaumendach oberhalb der Schneidezähne zur Stirn, zu dem Bereich zwischen den Augenbrauen, und dort ist dann ein primäres Anschwingen. Wenn ich aber jetzt mit der Tonhöhe variiere nach unten, also ein tieferes ‘n’ singe, kann ich die nach vorne, zur Welt gerichteten Knochen anschwingen. Zunächst - wenn wir abwärts gehen - das Brustbein, dann das Schambein, dann die Kniescheibe und schließlich den Fuß brücken. Wenn ich umgekehrt die nach hinten gerichteten Körperwände in Schwingung versetzen will, dann geht das mit dem Gähn-Laut ‘ng’. Dabei hat die Zungenwurzel die Führungskraft, und der primäre Anschwingpunkt ist das Hinterhaupt. Wiederum - wenn ich mit der Tonhöhe nach unten gehe - kann ich die gesamte Wirbelsäule, insbesondere zunächst den siebten Halswirbel, später die ganze Wirbelsäule bis zum Steiß ansingen und weiter noch bis zur Ferse hinunter. Diese Konsonanten z.B. schwingen die Knochen an.
Will man aber das Weiche, das Fleisch zwischen den Knochen mit dem Ton berühren, wird man das ‘i’ nehmen. Also alles Weiche kann man mit dem ‘i ‘berühren, wiederum entsprechend der Tonhöhe. So kann man z.B. das Perineum mit einem tiefen ‘i ‘ ansingen ...

Wie hast du das herausgefunden?

Ich selbst habe experimentell zu diesem Körper-Alphabet gefunden. Ich habe mich in den - wie wir das nennen - ‘Atemsitz’ gesetzt, auf den Suhl, geerdet.
Die Vorstellung: innen, der Körper leer; dann Wahrnehmung: Wo schwingen die Bausteine der gesungenen und vom Atem getragenen Sprache im Körper, insbesondere an den Körperwänden, an? Ich habe die Konsonanten erforscht und ihre Resonanzfähigkeit an den Körperwänden. Dabei stellen wir zu unseren Überraschung fest, daß sich manche Bereiche - schwere anschwingen lassen als andere, in denen wir mehr zuhause sind.
Das ähnelt der Erfahrung aus der Atemarbeit mit der Hand. An gewissen Räumen wird man mehr zu arbeiten haben, bis man sie - wieder ins Leben gerufen - zum Mitschwingen gebracht hat. Das alleinige punktuelle Anschwingen einer Stelle - das allerdings genügt noch nicht. Der wesentliche, wenn man so will, wirkende Vorgang besteht darin diese Stelle in Beziehung zu setzen zu einem Gegenüber (die Arbeit mit Polaritäten und Entsprechungen) und einzufügen in einen Körpergesamtakkord.

Schwingung alleine ist es nicht, denn Schwingung heißt nur neues Ansprechen. Dann kommt der nächste Schritt, das einordnen. Ich könnte auch so sagen: Das Mandala errichten - oder den Dreiklang herstellen, den Körper neu stimmen.

Wenn wir in der Sprache der Schwingung reden: es ist höchst selten, daß wir in einem reinen Akkord schwingen; durch tägliche Einflüsse, Streß, Emotionen fallen wir immer wieder aus der Einheit dieses Akkords heraus. Und die Arbeit besteht dann darin, den Menschen wieder in das Erlebnis seines höchst-persönlich eigenen Akkord zurückzuführen, so wie man immer wieder sein Instrument stimmen muß .....

Wie gehst du dabei mit dem Atem um? Nimmst du willkürlich Einfluß auf ihn oder betrachtet du ihn gar nicht?

Die Arbeit mit dem Ton ist zugleich eine Arbeit mit dem Atem, wie kann es anders sein. Denn der Atem ist ja der Träger des Tons. Aber auch der gesungene Ton hat eine außerordentliche günstige Rückwirkung auf die Atemkraft. Das ist wie eine glückliche Hochzeit.
Um den Atem aber geht es ja im eigentlichen. Die Tonarbeit ist eine Hinführung zur Atemarbeit. Für manche Menschen ist der Zugang zum Atem über den Ton oft leichter. Zunächst stärke ich die Atemkraft durch etwas, was ich “Das große Loslassen’ oder ‘Das große Seufzen’ nenne, wobei die am Kopf anschwingenden Konsonanten nach unten in das tiefe Becken gesungen werden, so als würde man den Ton trinken. Das sind sehr lange Ausatemvorgänge, und dadurch wird der Einatem deutlicher und auch länger. Es entsteht auf diese Weise ein großer vitaler Atem, mit dem wir auch die verborgenen Stellen im Körper erreichen können, die sich bisher dem Atem entzogen haben. Dieser Begriff der Arbeit, den Vitalatem in Gang zu setzen, dauert etwa 10-15 Minuten. Erst wenne die Atemkraft wirklich gestärkt und frei geworden ist, kann der Atem nicht nur zum Träger des Tons, sondern auch zum Träger de Lebenskraft werden.

Dann beginnt eine ganz andere Art der Atmung. Der Rachenraum übernimmt die ansugende Kraft und führt den Einatem vom Perineum durch das ‘Bambusrohr’ in der Nähe der Wirbelsäule zum Scheitel hinauf - die berühmte Pause; der Ausatem über die Stirn hinunter zur Beckenbodentiefe, wobei die Nabelkraft ans Rückgrad angeschlossen sein sollte - Pause; dann wieder der Einatem vom Perineum usw. Das ist der “kleine himmlische Kreislauf”.

Später, wenn wir über den Organbereich in den Brustraum kommen, wird der Atem mehr zu dem, was wir “den kleinen, den webenden Atem” nennen, der berühren und wirken kann. Und wenn der Mensch so wieder im Anschluß an sein Innerstes ist, spielt die Aufmerksamkeit auf den Atem kaum mehr eine Rolle. Der Atem wird dann fast selbst zur berührenden Schwingung.

Erst dann kann der vom Atem getragene Ton heilkräftig werden. Das ähnelt der Hand in der Atemeinzelarbeit. Die an den inneren Atem angeschlossene Hand hat eine Art magnetische Kraft. Wie die Schwingung der Handinnenfläche soll der Ton schwingen, er ist dann absolut vom Atem getragen, ohne jede Willensanspannung, aber mit großer Zielgerichtetheit.

Der Atem ist Träger der Lebenskraft. Und es geht bei dieser Arbeit um die Qualität der Elbenskraft in uns, die angesprochen und neu geordnet wird.

Was genau verstehst du unter ‘Lebenskraft’?

Libido, wenn du es so verstehen magst, oder Chi. Das sind alles Beschreibungen der einen Lebenskraft in ihrer verschiedenen Darstellung. Die Chinesen beschreiben den Sitz der Lebenskraft etwas oberhalb des Perineums. Über den “kleinen himmlischen Kreislauf” aufsteigend auf die Atembahn gebracht, entsteht der Kreislauf dieser Kraft durch den Körper. Dabei ist der Atem Träger dieses Vorgangs. Aber das sollte auch nicht zum Dogma eines bestimmten Atemweges werden. Wenn man den inneren Atem kennengelernt hat, wird man ihn oft aufganz intuitive Wiese im Körper bewegen und führen lernen, und da gibt es viele Wege, die interessant sind. Nur dies ist einfach ein seit Jahrtausenden bewährter Weg.

Sei es Atem-Hinwendung, singen eines Tons, all das ist erst dann wirkungsvoll, wenn wir es mit unserer Vorstellungskraft verbinden. Dort, wo der Ton anschwingt oder anschwingen soll, müssen wir uns mit der Vorstellungskraft versammeln. In dieser Arbeit ist der Atem mit dem Ton und dem Erlernen und Vertiefen unserer Fähigkeit, die Vorstellungskraft einzusetzen, verbunden. Wenn die Vorstellungskraft gewachsen ist, kann man beginnen, den Körper als ein Mandala zu sehen und es mit dem Gesang von Konsonanten und Vokalen zu errichten. Imaginierte Strukturen wie Kries, Dreieck, Quadrat, Diagonalen usw. - vom Gesang nachgezeichnet - , haben eine starke Wirkung auf das Schwingungsgeschehen im Körper. Wenn wir mit diesen Strukturen arbeiten, sie visualisieren, imaginieren, entschlüsseln sich diese Urstrukturen des Lebendigen in der eigenen Lebenskraft.

Wenn du auf diese Weise arbeitest, führst du dann den Atem nicht sehr stark?

Es gibt nichts, was man tun will oder machen kann, das wäre einen Vergewaltigung des Atems, sondern es ist das Tun im Michttun, wie jemand, der lauscht. Es ist eine hochwachsame Selbstvergessenheit, die Vereinigung einer Antithese. Nichts tun und doch tun. Ein sehr ganzheitlicher und intuitiver Prozeß. Kein Wollen

Du bist als junger Mensch Cornelis Veening begegnet. Veening hat ja mit jedem Menschen sehr individuell gearbeitet. Mit dem einen konnte er über den tiefenpsychologischen Aspekt des Atems sprechen und mit jemand anderem über den klassischen Weg des Atem-Yoga oder - wie mit Erika Weynert - über den Tanz. Wie war das bei dir? Habt ihr über die Atem-Ton-Arbeit gesprochen?

Soweit ich mich erinnere, hat Veening gegen Ende seines Lebens jedem irgendetwas mitgegeben als Hinweis, wie er weiter arbeiten könnte. In meinem Fall sprachen wir über den heilenden Ton. Er stand vor mir und sagte: “Rechten Fuß vorsetzen, mit den Armen die Welt umarmen, den heilenden Ton an der Stirn anschwingen”. Es erklang ein ganz leises “n” an seiner Stirn. Darin enthalten war die Tiefe der Durchdringung eines ganzen erfahrenen Lebens. Ich war wie vom Donner gerührt ...
Später, nach seinem Tod, begann ich, mich auf die Suche nach diesem Ton zu machen, ihn in mir und durch mich zu erfahren und ihn dann in die Gruppenarbeit einzubringen.
Man kann ihn natürlich nicht machen. Erst wenn der Körper, die Empfindung und das Bewußtsein harmonisiert sind, d.h. im reinen Dreiklang schwingen, kann - in einigen Momenten - diese Qualität des Tons entstehen, oft erst in den Letzten Minuten einer Arbeit.

Hast du in deiner Arbeit positive Erfahrungen mit speziellen Krankheitsbildern gemacht?

Ja, zum Beispiel bei Hörsturz, aber auch bei MS-Patienten. In einem nicht zu fortgeschrittenen Stadium ist der Atem des “kleinen Kreislaufs” über die Wirbelsäule sehr unterstützend. Ich denke, daß diese Arbeit allgemein sich günstig auf die Stimulation des Stoffwechsels auswirkt, weit durch die Resonanzfähigkeit des Tons ja auch die inneren Organe berührt werden.

Was ich mit noch wünsche ist, daß diese Arbeit so weit entwickelt wird, daß sie auch Tinnitus verändern kann. Ansätze dazu gibt es. Aber grundsätzlich wendet sich die Arbeit an die Selbstheilungskräfte im Menschen, die sich meiden, wenn die Seele wieder anwesend in uns wirken kann.

Du sprichst von Physis und Seele. Wo aber ist das Ich in dieser Arbeit, wie kannst du es beschrieben?

Das Ich ist der Wahrnehmende, und sein Wissen davon. Wenn man zu dem Harmoniepunkt kommt, wo das Ich nichts will und trotzdem klar anwesend ist, dann kann sich dieses Ich - wie Veening sagte - , dieses kleine und persönliche Ich spiegeln im groß en Ich, das man auch das Selbst nennt.

Wie unterscheidest du Wahrnehmung und Empfindung?

Das ist abhängig davon, wo die Lebenskraft im Körper anwesend ist. Wenn sie bestimmend in dem Bauch-Organraum anwesend ist, dann wird die Wahrnehmung eine empfindende Wahrnehmung sein. Wenn die Lebenskraft sich in den oberen Räumen, im Herzraum versammelt, dann wird diese Lebenskraft ein inneres Wissen sein, und wenn sie hinter der Stirn versammelt ist, dann ist es ein Wahrnehmen, das weniger mit Empfindung als mit Erkenntnis zu tun hat. Dort, wo die Lebenskraft anwesend ist, auf dieser Ebene wirkt die Wahrnehmung.

Gibst du auch bewußt Dissonanzen in den Gruppenklang?

Dissonanzen sind zur gegebenen Zeit genauso wichtig wie der Einklang oder der harmonische Vielklang. Dissonanz hat die Kraft, etwas auszusondern.
Das heißt, wenn ich feststelle, daß der Gruppengesang nicht wirklich aus einem lebendigen Gestalten kommt, wenn also eine gewisse schöpferische Trägheit vorhanden ist, dann bringe ich die Dissonanz, die dazu aufruft, wieder neu zu erfahren, das Alte zu verlassen, um einen neuen Weg zu suchen.
Man kann sich nämlich mit einem flachen Wohlbefinden, einem flachen Einklang, auch aus dem Leben heraus mogeln. Der echte Einklang, also die Summe der gleichen Töne aus der gleichen Tonhöhe, bewirkt eine Verstärkung; die Dissonanz sondert aus, und die Quint zum Grundton baut Neues ein und verwandelt.

Eine letzte Frage: Warum ist das, was du den heilenden oder bewirkenden Ton nennst, ein leiser Ton?

Der lautgesungene Ton hat eine direkte Wirkung auf die Physis, der mittellaute Ton auf den psychischen Bereich, während de leise Ton den geistigen Bereich anspricht.

[Florian Fricke ist Komponist und Leiter der Musikgruppe Popol Vuh; seit fünfzehn Jahren Gruppenarbeit mit dem Atem-Ton; Schüler von Cornelis Veening.]

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Published in a magazine of AFA (Arbeits- und Forschungsgemeinschaft für Atempflege)